Gerade finden wieder in vielen Städten große Demonstrationen statt, wohl eine Million Menschen hat in ganz Deutschland gegen der parlamentarischen Arm des deutschen Neofaschismus demonstriert, auch in mittleren und kleinen Städten, auch im Osten (was mich besonders freut).

Das finde ich gut und richtig, aber ich bin aus mehreren Gründen sehr skeptisch und will versuchen, Ordnung in meine Gedanken dazu zu bringen.

  1. Diese Bilder sind nicht neu. Ich habe lebhaft die „Wir sind mehr“-Demos von 2018 vor Augen, wo allein in Chemnitz mehr als 65.000 Menschen demonstriert haben. Die Faschisten haben bei der Landtagswahl kaum ein Jahr später trotzdem 28,4% geholt.1
  2. Die Parteien sind relativ leise. Vor allem die CDU-Leute aus meinen Feeds (aus beruflichen Gründen sind das einige) haben sich zu den Demos bisher kaum geäußert; die Bundesebene besteht auf das ewige „aber der Linksextremismus“. Die Grünen hingegen sind sehr eifrig dabei, für anstehende Demos zu werben, wie auch in Teilen die SPD. Das ist insofern interessant, als dass die RGG-Koalition Ende letzter Woche das sogenannte „Rückführungspaket“ beschlossen hat, das zu schnelleren Abschiebungen führen soll. Die Demonstrationen richten sich, zumindest in Teilen, auch gegen die häufig mit starker rechter Schlagseite versehene Politik der Bundesregierung, aber für den Kanzler zählt ja eigentlich nur ORDNUNG. Von der FDP brauchen wir – wie immer – gar nicht zu reden.
EIn Screenshot der Webseite der Bundesregierung zeigt Olaf Scholz neben einer Europa- und einer Deutschlandflagge. Rechts neben ihm der Text: „Gegen Hass. Für Humanität und Ordnung“

  1. Noch ist nicht ganz klar, ob diese Diskussionen ein Momentum aufnehmen und zu ~echten~ Veränderungen in der Parteipolitik führen. Bisher sieht es nicht danach aus. Parallel zu den Demos fragt Caren Miosga „Wird Deutschlands Zukunft konservativ?“. Friedrich Merz hat da Gelegenheit bekommen, noch mal zu unterstreichen, dass sich die CDU deutlich von den Faschisten unterscheiden würde – wie genau, hm, sagt er nicht. Das Unangenehmste an diesem Interview war (für mich) überraschend aber Miosgas fangirl attitude.
  2. In meinen Feeds tauchen die ersten auf, die darauf bestehen, dass da Menschen gegen „Rechtsextreme“ demonstrieren, nicht etwa gegen „Rechte“, das sei ja eine ganz normale politische Haltung. Für die kommenden Tage erwarte ich, dass die Feuilletons wieder mit intellektuellen Forderungen der Form „mit Rechten reden“ tapeziert werden. Die Reihenfolge ist immer die selbe.
  3. Du sollst nicht mit Faschisten reden. Für Taubenschach haben wir wirklich keine Zeit.
  4. Journalismus schützt uns nicht vor Faschismus.
  5. Es gibt immer noch Menschen, die – für Geld? – in Kameras sagen, es müsse nur einfach mehr Geld in Bildung fließen. Die Vorstellung, gebildete Menschen würden nicht Faschisten wählen, ist ein bildungsbürgerlicher Circlejerk.
  6. Der früher einmal analytische Begriff „Remigration“ ist jetzt ein Faschowort und es ist überall. Und es bleibt. Die Tölpel von der Aktion „Unwort des Jahres“ haben das Wort kurzerhand zum Sieger erkoren und ihm damit ein Denkmal gesetzt, so viel selbstbesoffenheit muss man auch erst mal aufbringen können.

Und jetzt?

Die Frage „was tun wir denn jetzt dagegen?“ treibt gerade alle um. Ein Anfang wäre gewesen, in den letzten 20+X Jahren BIPOCs zuzuhören, aber was weiß ich schon.

Mit Demos habe ich einige Probleme (siehe: Punkt 1), weil sie performativ sind und nichts kosten. Ich geh‘ natürlich trotzdem hin. Allerdings bin ich überzeugt davon, dass praktischer und lebensnaher Antifaschismus viel nützlicher ist, wenn er Marginalisierten und vom faschistischen Menschenhass akut bedrohten Menschen(gruppen) weiterhilft.
Das kann bedeuten:

  • Partei ergreifen. Antifaschismus, immer.
  • Solidarisches Handeln im Alltag
  • Geld spenden an Initiativen für Geflüchte, LGBTQIA*s, BIPOCs, Frauenhäuser oder Einrichtungen der offenen Jugendhilfe
  • Sich mit dem internalisiertem Rassismus und etwa Transphobie auseinandersetzen und dabei wirklich etwas lernen.
  • Netzwerke der Zivilgesellschaft etablieren, um jüdische und islamische Gemeinden zu schützen und zu unterstützen.
  • gleichzeitig unbedingt vermeiden, zu viel Energie darauf zu verschwenden, zum eigenen Chor zu predigen
  • und so viel mehr.
Anmerkungen

  1. https://www.wahlen.sachsen.de/landtagswahl-2019-wahlergebnisse.php
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d.

daß Auschwitz nicht noch einmal sei

Der 27. Januar ist der internationale Tag des Gedenkens an die Opfer der Shoa. An diesem Tag wurde 1945 das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau von der Roten Armee befreit. Bis zu diesem Von 1940 an bis zu diesem Tag starben in den Lagern des Auschwitz-Komplexes bis zu 1,5 Millionen Menschen.

Im November 1959 formulierte Theodor W. Adorno einen Radiovortrag mit dem Titel „Erziehung nach Auschwitz“, der später auch in Schriftform herausgegeben wurde. Adorno leitet den Vortrag ein mit einem berühmt gewordenen Zitat:

Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, daß man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug.

Theodor W. Adorno (2003): Gesammelte Schriften. Band 10: Kulturkritik und Gesellschaft, p. 690.

Nun ist Adorno selbst vor den Nazis zunächst nach Großbritannien, dann in die USA geflohen und erst 1949 wieder nach Deutschland zurückgekehrt. „Erziehung nach Auschwitz“ war Adornos Beitrag zu einer der ersten „Schlussstrich-Debatten“, die die Bundesrepublik bis in die Gegenwart immer wieder führt – mit zum Teil haarsträubender Wortwahl, aber Faschisten hören eben niemals auf, Faschisten zu sein und das Sagbare zu verschieben, ist bei Rechten ja gerade wieder sehr in Mode.

Gleichzeitig wird Adornos Forderung „daß Auschwitz nie wieder sei“ heute häufig als antifaschistische Beteuerung im Rahmen des Gedenkens an die Novemberpogrome oder eben den 27. Januar verwendet, gerne auch verhashtagged: #NieWieder!

Auch nach antisemitischen Anschlägen wie zuletzt dem in Halle an Jom Kippur 2019 wird Solidarität mit Jüd*innen routiniert bekundet. Wirklich handfest gelebt werden solche Bekenntnisse in Deutschland kaum und auch deshalb bleibt das Gedenken an die Shoa performativ und selbstvergewissernd.

Die Realität für JüdinnenJuden im Deutschland der Gegenwart ist allerdings eine andere: noch heute, täglich, müssen sie täglich mit Anfeindungen und Gewalt rechnen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit als jüdisch zu erkennen geben.

Wir müssen immer Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer. Schweigen ermutigt den Peiniger, niemals den Gepeinigten. Manchmal müssen wir uns einmischen. Wenn Menschenleben bedroht sind, wenn die Menschenwürde in Gefahr ist, werden nationale Grenzen und Befindlichkeiten irrelevant. Wo immer Männer und Frauen aufgrund ihrer Rasse, ihrer Religion oder ihrer politischen Ansichten verfolgt werden, muss dieser Ort – in diesem Moment – zum Zentrum des Universums werden.

Elie Wiesel, Shoa-Überlebender in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises 1986.

Diese Forderung, die Forderung nach Zivilcourage, Empathie und Wachsamkeit, wird seit einigen Jahren wieder verstärkt in die deutsche Gesellschaft getragen, von jüdischen Stimmen wie Elie Wiesel (der 2016 gestorben ist) oder Ester Bejarano, die im Mädchenorchester von Auschwitz Akkordeon spielen musste und 2021 starb. Oder von jüdischen Deutschen der Nachkriegsgenerationen, etwa der Bloggerin Juna Grossmann oder dem Publizisten Max Czollek. Das sollte nicht sein. Das ist unser Job.

Die Enkel- und Urenkelkinder der Tätergeneration müssen sich darum kümmern, dass solche Dinge nicht wieder passieren und ich finde es nur schwer fassbar, dass in diesem Land, dessen Strukturen und Organe historisch so viel Leid über die Welt gebracht haben, heute wieder jüdische Menschen an die ~Christenmenschen~ appellieren und nachgerade um Hilfe flehen müssen, damit ihre basalen Grundrechte gewahrt werden (was dann wiederum natürlich nicht passiert, because Deutsche gonna deutsch.)

Der nächste 27. Januar wird ein Freitag sein und – natürlich – werden Gedenkfeiern stattfinden, die dann aber nur für Deutsche sind, denn der Schabbat beginnt mit Sonnenuntergang.